Freitag, 11. Oktober 2013

"Wie - sollen wir uns in die Illegalität begeben?" - Gespräch von Jelena Ratscheva (Novaja gazeta) mit Irina Ostrovskaja, Mitarbeiterin im Archiv von MEMORIAL


Das Interview[1] folgt hier in einer leicht gekürzten Fassung

Das Menschenrechtszentrum MEMORIAL setzt sich gerichtlich gegen die Aufforderung, sich ins Register „ausländischer Agenten“ eintragen zu lassen, zur Wehr, das Antidiskriminierungszentrum Memorial in Petersburg hat ein Verfahren bereits gewonnen[2], Verbände in Rjazan‘ und Komi sollen Verstöße, die die Kommission festgestellt hat, beheben[3] … Weshalb hat die historische Abteilung von Memorial noch keinen Bescheid von der Staatsanwaltschaft bekommen?

Ich weiß es nicht. Ich vermute, wir werden noch einen erhalten, in dem Sinne, dass wir Hunderttausende von Rubeln Strafe zahlen müssen. Auf dergleichen müssen wir uns gefasst machen.

Wäre es für Sie keine mögliche Option, das Etikett des „ausländischen Agenten“ zu akzeptieren und Ihre Arbeit in Ruhe weiterzumachen?

Dieser Terminus ist für uns vollkommen unakzeptabel, er ist unsinnig und absurd. 80 Jahre hat es sich in unserem Bewusstsein festgesetzt, dass ein Agent etwas sehr Schlechtes ist. Jede Anklageschrift von 1937 enthielt ausnahmslos die Anklagepunkte Spionage, Terrorismus und Agententätigkeit.
Allein in Moskau verstehen sich 17.000 Personen als Mitglieder von Memorial – das sind jene, deren Biographien durch politische Verfolgung geprägt sind. Jeder dieser 17.000 hat eine Rehabilitierungsbescheinigung für seinen Vater oder Großvater, in der es heißt: „Er wurde auf Grund der Anschuldigung, für eine ausländische Macht zu arbeiten, erschossen….“ Und jetzt sollen wir erklären, wir seien „ausländische Agenten“?! … Wie kann das angehen?!

Das heißt, diese Bezeichnung desavouiert ihre eigene Arbeit, also das, was der „ausländische Agent“ tut?

Ich würde sagen, es wird damit annulliert. Es gibt so etwas wie einen guten Namen. Was bedeutet der Name für einen Menschen, der verfolgt worden ist? Was ist für ihn die Rehabilitierung? Das ist das Wichtigste.
Jemand in Volgograd erzählte mir eine bemerkenswerte Geschichte, wie er auf Kolyma freigelassen wurde und, um noch das Schiff vor Ende der Schifffahrtsperiode zu erreichen, zu Fuß durch die Tundra gehen musste, über die Hügel. Und da gibt es Tiere, die einem Menschen wirklich gefährlich werden können. Ich fragte ihn erschrocken: „Wie, sind Sie denn nachts allein durch die Tundra gegangen?“ Er schaut mich an und sagt: „Wieso denn allein? Ich war nicht allein. Ich hatte meine Rehabilitierungsbescheinigung dabei“…

Warum ist es so wichtig, dass unsere Aktion „Rückkehr der Namen“ auf dem Lubjanka-Platz öffentlich und vernehmlich erfolgt? Weil die Rehabilitierungsbescheinigungen irgendwo in einer Ecke im Stillen ausgegeben wurden, und hier kann man den Namen des verfolgten Vaters laut und öffentlich aussprechen, man kann sagen, dass er ein unbescholtener Mensch war und sein Name unbefleckt ist
MEMORIAL hat ebenfalls nichts außer dem ehrlichen Namen. Und jetzt sollen wir diesen Namen mit Schmutz bewerfen? Man kann einem Geld und Zuschüsse wegnehmen, aber nicht den Namen. Der Name ist das einzig wichtige. Hiervon darf man nicht abrücken.

Außerdem darf man dem Staat nicht das Recht auf eine derartige Terminologie einräumen. Das Gesetz ist so formuliert, dass man jeden einer politischen Tätigkeit bezichtigen kann. Wenn man sich für kranke Kinder einsetzt, nimmt man Einfluss auf die staatliche Gesundheitspolitik. Wenn man Hauswarte unterstützt, beeinflusst man die Kommunalpolitik… Wenn man bekennt, ein ausländischer Agent zu sein, muss man jede politische Tätigkeit beenden, andernfalls drohen Sanktionen. Ein solches Eingeständnis ist der erste Schritt zur Schließung. Es ist ein circulus vitiosus.

Wir arbeiten ja nun an Projekten mit verschiedenen Sponsoren. Ein Projekt fördert eine russische Stiftung, ein anderes bekommt Fördermittel der EU. … Es gibt auch private Spenden.
Sehen Sie, hier ist eine Überweisung von 1000 Rubeln. Der Onkel des Spenders wurde 1937 erschossen. Eingedenk seines Onkels überweist er Geld an uns. Es gibt Spender, die uns jährlich Geld überweisen, jedes Jahr.

Können Sie von diesen Spenden existieren?

Nein. Es geht nicht einmal darum, dass das nicht viel ist. Heute bekommen wir etwas, morgen vielleicht nicht. Und wir müssen ja leben, Steuern zahlen, die Beleuchtung und Heizung des Museums und des Archivs finanzieren.

Ihnen wurden im Dezember Zuschüsse gekürzt?

Ja. Die US-Agentur für internationale Entwicklung (USAID) wurde gezwungen, Russland zu verlassen, und bei uns war gerade eine auf fünf Jahre angesetzte Projektförderung angelaufen. Deshalb sind wir finanziell in einer schlechten Lage. Wenn es gar kein Geld mehr gibt, werde ich ehrenamtlich arbeiten, das haben wir in unseren Anfangsjahren auch getan. Aber unsere jungen Mitarbeiter werden natürlich weggehen.

Wir ist die Überprüfung von MEMORIAL verlaufen?

Teils absurd, teils lächerlich. Sie haben 70 Kilo Papiere mitgenommen, eine gigantische Menge, die musste man mit einer Schubkarre transportieren. Die ganze Arbeit stand still, ständig verlangten sie irgendeinen Unsinn von uns, etwa einen Rapport über den jeweiligen Verbleib unserer Arbeitsbücher. Im Petersburger Memorial-Verband wollten sie die Ergebnisse einer Fluorographie sehen – man hätte ja Kontakt zur Bevölkerung. Irgendwer musste sogar eine Impfbescheinigung für Diphterie vorlegen…
Dann beanstandeten sie die Präsentation von Jan Raczyńskis Buch „Vollständiges Verzeichnis der Moskauer Straßennamen“ – dieses Buch sei doch nicht von MEMORIAL herausgegeben worden. Es geht jetzt gar nicht darum, dass das Buch aus einer immensen Arbeit hervorging, die mit der Recherche nach Adressen zu tun hatte, an denen Moskauer Bürger vor ihrer Inhaftierung gewohnt hatten. Wir präsentieren ja auch Bücher anderer Autoren, die nicht unmittelbar mit MEMORIAL zu tun haben, und wir suchen diese Bücher selbst aus.

War Ihre historische Arbeit nicht der Beginn der Tätigkeit von MEMORIAL?

Ja. Mein eigener Sohn hat mir kürzlich gesagt, dass MEMORIAL in erster Linie als Menschenrechtsorganisation wahrgenommen wird und dass von der historischen Arbeit niemand etwas weiß, obwohl die historische Komponente bereits vor der Menschenrechtsarbeit vorhanden war.

Das war 1988. Damals wussten die Leute nicht, was es bedeutete, zu „10 Jahren Haft ohne Korrespondenzerlaubnis“ verurteilt zu sein. Sie kamen zu uns: „Vor 50 Jahre wurde mein Mann/Bruder/Vater von Leuten in Uniform abgeholt, und ich weiß nicht, wo er ist. Vielleicht ist doch irgendwas bekannt?“
In diesen Jahren hatten wir viele ehrenamtliche Mitarbeiter. Wir haben ein Archiv, ein Museum und eine Bibliothek eingerichtet.

Sobald bekannt wurde, dass es MEMORIAL gibt und dass man sich dahin wenden kann – um Ratschläge und Informationen zu bekommen oder um über jemanden zu berichten –, da wurden wir mit einer solchen Masse von Briefen überschschwemmt, dass die Post anfing, zu streiken. Das ist keine Übertreibung – es gab einen Augenblick, in dem die Post gesagt hat: „Kommen Sie und holen Sie Ihre Briefe mit dem Auto.“ (…)

Wir begriffen, dass für uns das Schicksal jedes einzelnen Menschen wichtig ist, das Schicksal als Einheit der Geschichte. Selbst wenn das Schicksal bei allen, mit denen wir uns befassten, auf das gleiche hinauslief – auf einen Genickschuss oder Lagerhaft – es ging uns jedoch darum, wie es dahin kam, wie sie das alles erlebten. Wie? Warum? Aus offiziellen Dokumenten geht das nicht hervor. Deshalb haben wir das Archiv von MEMORIAL durch Unterlagen ergänzt, die die Familien aufbewahrt hatten: Briefe, oft illegal aus der Haft übermittelt, Memoiren, die die Menschen aufgezeichnet hatten, mündliche Erinnerungen, die wir selbst sammelten.

Manchmal bringen uns Menschen Kopien aus den archivierten Ermittlungsakten ihrer verfolgten Verwandten, und wir können die Verhöre, in denen aus einem Menschen ein Feind gemacht wird, etwa mit den Briefen vergleichen, die dieser Mensch aus dem Lager geschrieben hat. Das sind Dokumente, deren Wert und emotionale Bedeutung gar nicht wiederzugeben ist.

Über wie viele Häftlinge haben Sie Informationen?

Im Archiv vom MEMORIAL Moskau ungefähr über 80.000 Personen. Außerdem gibt es eine Datenbank mit kurzen Angaben, die fast 3 Millionen Menschen erfasst. Im FSB-Archiv sind mehr, aber was besagt das schon?
Zu Anfang widmeten wir uns noch der materiellen Unterstützung besonders Bedürftiger. In den 80er und 90er Jahren waren ein Huhn, ein Kilo Buchweizen oder Waschmittel wichtiger als eine Rehabilitierungsbescheinigung, es ging ja ums Überleben. (…). Jetzt sind die Verfolgten als Opfer anerkannt, sie bekommen eine Entschädigung, allerdings ist diese rein symbolisch.

Von den Personen, die in den Lagern gewesen sind, sind nur noch wenige übrig, die wesentlichen Informationen über sie sind bekannt. Wie sieht Ihre Arbeit heute aus? Bekommen Sie immer noch Briefe?

Stellen Sie sich vor, manche Menschen glauben bis heute, dass ihre Angehörigen am Leben sind. Vor kurzem kam eine ältere Dame zu uns, eine Emigrantin. Sie hat lange in Amerika gelebt, die 90er Jahre hat sie nicht mitbekommen, jetzt möchte sie ihren Vater finden: „Er war zu zehn Jahren ohne Korrespondenzerlaubnis verurteilt, er kam in entlegene Lager. Er ist herausgekommen und irgendwo gestorben. Ich möchte gerne sein Grab besuchen.“ Ich habe ihr gesagt: „Er hat das nicht überlebt, er ist erschossen worden.“ Sie hat die russische Sprache verlernt und begann abwehrend zu gestikulieren: „No, no! It’s impossible“.

Einer unserer Mitarbeiter ist für die Briefe zuständig. Jeden Monat beantwortet er Hunderte von Anfragen nach Angehörigen. Es kommen auch Leute in unsere Sprechstunden. Häufig sind es Forscher, die bestimmte Personengruppen suchen, etwa Physiker oder Geologen. Es gibt keine Instanz, an die sie sich sonst wenden könnten. Vorhin hat mich ein Homöopath aufgesucht. Er arbeitet über die Geschichte der Homöopathie. Ich habe einen der verfolgten Homöopathen für ihn herausgesucht. Hier haben Sie ein Zitat aus seiner Strafakte: „Er gehörte der konterrevolutionären Gruppe der homöopathischen Ärzte und einer bösartigen faschistischen terroristischen Pogrom-Organisation an.“ Was für erfindungsreiche Formulierungen! Er wurde natürlich erschossen…

Sie stellen weiterhin Erschießungslisten zusammen?

Natürlich. Die letzte Ausgabe der Datenbank stammt von 2007, mit etwas unter 3 Millionen Menschen. Statistischen Angaben zufolge waren es etwa 12 Millionen, so dass noch viel zu tun bleibt.
Viele berichten uns vom Schicksal ihrer Groß- und Urgroßväter. Diesen Personen geht es darum, dass diese Informationen in unsere Datenbank und ins Internet kommen, dass sie öffentlich bekannt werden, dass da schwarz auf weiß steht, dass ein Mensch in dieses Verzeichnis aufgenommen wurde, weil er rehabilitiert ist, er war unschuldig. Auch Verwandte können auf diese Weise ausfindig gemacht werden: In den Jahren des Terrors wurden die meisten Familien im ganzen Lande verstreut, wie zu Kriegszeiten, allerdings insofern schlimmer, als es unmöglich war, einander zu suchen. (...)

Kürzlich kam jemand zu mir – das war eine klassische Geschichte. Er ist 1936 geboren, sein Vater wurde 1937 verhaftet, der Sohn kam ins Kinderheim, er wusste überhaupt nichts von seinen Angehörigen, rein gar nichts. Vor kurzem übersandte man ihm die Rehabilitierungsbescheinigung seines Vaters und Dokumente aus seiner Akte. Darin heißt es, dass er eine Kusine hat. Er kam zu mir und sagte: „Ich möchte meine Kusine finden, sie könnte mir was über meine Familie berichten.“ Ich habe sie ihm buchstäblich in 15 Minuten gefunden. Es stellte sich heraus, dass die Kusine Erinnerungen ihrer Mutter veröffentlicht hat, also seiner Tante. Jemand, der nichts von seiner Familie gewusst hat, findet mit Hilfe dieses Buches seine Familie. Er erfährt, dass sie acht Personen waren, und liest etwas über seine Großeltern und Urgroßeltern. Wir finden Schwestern, Brüder, Klassenkameraden… Im letzten Jahr – das war ein großer Erfolg – fand ich für eine Frau ein Foto ihres erschossenen Vaters, das sie ihr ganzes Leben lang gesucht hatte. Das war Zufall – aber solche Zufälle gibt es bei uns jeden Tag.

Wie verhalten sich offizielle Organisationen Ihnen gegenüber?

Ich weiß, dass man das Wort „MEMORIAL“ im Fernsehen nicht liebt. Ich wurde schon oft interviewt, und im Untertitel heißt es dann etwa: „Historikerin aus Moskau“.

Arbeiten die staatlichen Archive – z. B. das FSB-Archiv – mit Ihnen zusammen?

Das Verhältnis zu ihnen ist unterschiedlich. Es kam vor, dass uns Leute aufsuchten und erzählten, im FSB-Archiv habe man ihnen gesagt: „Gehen Sie zu MEMORIAL, da wird man ihnen alles sagen.“ Über manche Themen konnten wir kooperieren, es gab sogar gemeinsame Publikationen. Aber in den letzten Jahren hat sich das alles geändert. Forscher erhalten keinen Zugang mehr zu Archiven. Offiziell gibt es diese Möglichkeit immer. Nach dem Gesetz können 75 Jahre lang nur Angehörige die Akten von Verfolgten einsehen. Danach werden sie freigegeben und sind allen zugänglich. Theoretisch müssten also die Akten der 30er Jahre bereits offen sein. Aber der Prozess der Freigabe selbst kann noch 75 Jahre lang dauern!

Unser Traum ist es, etwas in der Art zu schaffen, wie es für die Soldaten, die im Krieg gefallen sind, oder für die Opfer der Leningrader Blockade gemacht wurde. Diese Informationen sind größtenteils zusammengestellt und zugänglich. Etwas Vergleichbares für die Opfer politischer Verfolgung einzurichten ist nicht so schwierig, es muss nur eine Verfügung von oben dafür geben, dass alle regionalen FSB-Archive ihre Unterlagen zur Verfügung stellen.
Sie sind ja vorhanden. Zu unserem Glück steht auf politischen Akten der Stempel „Für immer aufbewahren“. Ich weiß nicht, was sie sich dabei dachten, als sie diesen Stempel anbrachten, wahrscheinlich hielten sie sich für Götter. Aber um diese Informationen heute zu bekommen, bedarf es des guten Willens der FSB-Leitung, die Mitarbeiter anweisen muss, die Bestände eingestellter Verfahren zu sichten und die erforderlichen Angaben zusammenzustellen--  Das ist mühsam, öde, sie haben genug u tun, die oberste Leitung gibt ihnen dazu keinen Auftrag, und von selbst fangen sie nicht damit an. Sie merken ja auch, woher der Wind weht, und wittern den Geist der Zeit.

Die Freigabe historischer Dokumente durch die Überbehördliche Kommission zum Schutz von Staatsgeheimnissen hat nahezu aufgehört. Was bedeutet das für Sie? Kann man das als Signal für die Öffentlichkeit bewerten?

Ich glaube, ja. Die herrschende Einstellung lässt sich in dem Satz zusammenfassen: „Es reicht. Alles, was Sie wissen müssen, haben Sie erfahren.“ Zudem hören wir die ganze Zeit, dass der Patriotismus gefördert werden muss. Und Patriotismus baut auf Positivem auf. Wie oft kann man noch sagen, dass es bei uns dunkle Flecken und Leichen im Keller gibt…

Kann man daraus, wie sich das Vorgehen von Beamten MEMORIAL gegenüber ändert, darauf schließen, dass sich die staatliche Haltung zum Thema der Repressionen geändert hat?

Ich meine ja. Die Rede von den Repressionen behandelt ja nicht nur Personen, die ermordet wurden. Es geht um die Menschenrechte. Und die offizielle Haltung ist, dass das ganze Reden über die Repressionen am besten nur auf Friedhöfen stattfinden soll. Es wurden Menschen umgebracht, also bauen wir eine Kapelle und beten wir.

Nehmen wir ein Beispiel: Die Solowezki-Inseln. 600 Jahre hat dort ein Kloster existiert. Und das Lager bestand von 1923 bis 1941, 18 Jahre, das ist doch nichts! Was sind 18 Jahre im Vergleich mit der 600jährigen Geschichte des bedeutenden, wunderbaren Solowezker Patriarchen-Klosters! Deshalb wurde das Lagermuseum, das sich im Solowezker Kreml befand – im Kreml hatte ja die Lagerverwaltung ihren Sitz – vom Territorium des Klosters entfernt und natürlich beim Friedhof untergebracht. Oder die Solowezker Kirche auf dem Sekir-Berg, die als Karzer diente. Dort wurde nicht geheizt, deshalb hat man die Leute nur eine Nacht dort untergebracht – am Morgen hatte sich jede Umerziehung bereits erübrigt, alle waren erfroren. Die Innenwand war voll von Graffiti der Sterbenden. – Was wurde damit gemacht? Natürlich haben sie das beseitigt, übertüncht.

Der Terminus „ausländischer Agent“ gehört mehr in die Zeit, mit der sich MEMORIAL befasst, als in die Gegenwart. Haben Sie nicht das Gefühl, dass sich jene Zeit terminologisch und rhetorisch der heutigen annähert?

Ich weiß es nicht. Manche Worte sind zweifellos sehr verletzend. Wenn jemandem nichts Neues einfällt, dann greift er auf seine Reserve, sein Gedächtnis zurück. Wir sind nicht mit der romantischen Kinderliteratur groß geworden, wir wurden nicht in Wettkämpfen erzogen, sondern anhand von Feindbildern.

Wahrscheinlich ist es die Arbeit des Menschenrechtszentrums MEMORIAL, die die wesentlichen Vorbehalte der Regierung auslöst. Haben Sie nicht daran gedacht, sich davon zu distanzieren und dieselbe Arbeit unter anderem Namen fortzuführen?

Und wie sollen wir uns nennen? Nicht MEMORIAL, sondern Ritual? Gesellschaft „Pamjat“ (Erinnerung)?!
Auf die Komponente der Menschenrechtsarbeit zu verzichten wäre einigermaßen abwegig. Wenn wir politische Verfolgungen als Menschenrechtsverletzungen ansehen – wie können wir dann auf Menschenrechtsarbeit verzichten? Wenn wir Lageraufstände als einen Versuch ansehen, Widerstand gegen den Staat zu leisten – worum handelt es sich dann? Um die Geschichte der Verfolgungen oder die Geschichte des Einsatzes für Menschenrechte? Wir sprechen vom 30. Oktober als dem Tag der Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen – er ist jetzt zu einem Gedenktag geworden. Aber in Wirklichkeit ist das der Tag, an dem der Dissident Kronid Ljubarskij einen gemeinsamen Hungerstreik politischer Gefangener organisiert hat.[4] Das geschah nicht, um der Ermordeten zu gedenken, sondern als Protest, als Kampf um die Menschenwürde. Es war gegen Menschenrechtsverletzungen gerichtet.

Haben Sie denn irgendwelche Auswege erwogen? Etwa sich im Ausland zu registrieren, wie das Menschenrechtsorganisationen in Belarus tun?

Wie - sollen wir uns in die Illegalität begeben?! Wir wissen alle, dass Belarus außerhalb der Rechtsnormen steht. Wenn wir dasselbe tun wie dort, heißt das einzugestehen, dass Russland sich ebenfalls auf dem Weg zu einem diktatorischer Polizeistaat befindet. Wenn das so ist – dann sind wir als gesellschaftliche Organisation auch dafür verantwortlich.

Wir können nicht in der Illegalität arbeiten, wir haben ein großes Archiv und einen großen Bestand an Gegenständen aus den Lagern haben, ein Archiv von Briefen und Dokumenten. Das haben wir gesammelt, das ist uns anvertraut worden. Diese Papiere, die wir haben, sind ja die letzten. Mehr gibt es nicht und ist auch nirgends zu bekommen. Wir sammeln sie schon seit über 30 Jahren. Für mich sind das, verzeihen Sie das Pathos, menschliche Schicksale.

Wissen Sie, ich verstehe es nicht zu beten, ich bete nicht. Ich bin still und warte ab. Aber ich denke mir, es kann doch nicht sein, dass immer die Ungerechtigkeit siegt. Es kann nicht sein, dass MEMORIAL nicht 
bestehen bleibt.

22.7.2013


[3] MEMORIAL Komi hat inzwischen vom Justizministerium bescheinigt bekommen, es sei kein „ausländischer Agent“.
[4] Kronid Ljubarskij (1934 – 1996), ursprünglich Physiker, 1972-1977 aus politischen Gründen inhaftiert, 1977 aus der Sowjetunion ausgereist, lebte bis zu seiner Rückkehr 1992 in München, wo er u. a. regelmäßige Informationsbulletins über politische Gefangene in der UdSSR herausgab.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen